Kriegskinder
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FLUXUS – Kriegskinder
Zwischen 1990 und 2000 sind etwa zwei Millionen gefallen, sechs Millionen wurden zu Invaliden und zehn Millionen trugen schwere seelische Schäden aus bewaffneten Konflikten davon. Die Rede ist von Kindern. Sie sind diejenigen, die unverschuldet und am meisten unter den gewaltvollen Konflikten in der Welt zu leiden haben. Sie werden aus ihrem Paradies vertrieben. Sie werden getötet. Sie erleben, wie ihre Väter und Mütter geschunden, getötet und selbst zu grausamen Täter_innen gemacht werden. Sie werden dazu gezwungen, selbst zu Mörder_innen zu werden. Sie erleben, wie ihr Zuhause in Flammen aufgeht, die Not, kein Dach über dem Kopf zu haben und tagelang keine Mahlzeit zu bekommen. Sie erleben Flucht und Elend. Sie, die Kriegskinder, leiden unverschuldet, man sagt, am meisten. Dennoch sind sie Hoffnungsträger_innen, die für Zukunft und Wiederaufbau stehen: Die aus dem Spiel der Kindheit Vertriebenen, zu Heilsbot_innen Stilisierten; Sie sind traumatisiert, schwer verletzt, in ihrem Grundvertrauen und Erfahrungen und dem Glauben an das Gute im Menschen erschüttert. Sie stehen gebrochenen, schweigenden und sich selbst belügenden Erwachsenen gegenüber, völlig auf sich gestellt, ihre eigenen Überlebensstrate¬gien entwickelnd. Zunächst für sich selbst, dann für die folgende Generation.
Das Thema bleibt von trauriger Aktualität. In der Traumaforschung gilt es als erwiesen, dass Menschen mit traumatisierenden Erfahrungen von diesen nicht nur nachhaltig geprägt werden, sondern ihre Erfahrungen in aller Regel an nachfolgende Generationen weitergeben. Kinder also, die ohne jegliche Unterstützung zur Überwindung von Traumata allein gelassen werden, entwickeln im Erwachsenenalter Verhaltens¬weisen, die auf den traumatisierenden Erfahrungen gründen. Somit werden direkt oder reziprok Muster reproduziert, die den Kriegserfahrungen äquivalent sind und dies, obwohl der Krieg oder das dabei erfahrene Leid bereits lange Zeit zurück liegen. Die Künstler_innen der Generation der 68er gehören zu jener Gruppe, welche auf diese Weise mit den Erfahrungen des 2. Weltkrieges als Kriegskinder umgehen mussten. Keine andere Künstlergeneration ist so sehr von den Geschehnissen des 2. Weltkrieges geprägt, wie jene, die in den 1960er Jahren weltweit zu den Erben der beteiligten Kriegsparteien gehörten. Nicht nur die eigenen Erfahrungen von Krieg und Vertreibung spielen dabei eine Rolle, auch die Weitergabe dieser Erfahrungen an die folgenden Generationen und die politische, räumliche sowie psychische Orientierung der Menschen in einer Nachkriegsordnung erscheinen wichtig. Die Bandbreite von Erfahrungen, die in die Familiengeschichten hineinwirken, reicht von Strukturen des Schweigens über Opfer- und Täter_innenrollen sowie deren Vermischung, bis hin zu Brüchen, Verlusten, zusätzlich zu Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen. Jede_r Einzelne von ihnen entwickelte eigene Ansätze, biografische Erfahrungen in ihrer/seiner Kunst zu verarbeiten oder ihrer/seiner Sicht des Zustandes einer kollektiven Verarbeitung der Traumata Ausdruck zu verleihen. 30 Jahre nach dem Mauerfall und dem „Ende des kalten Krieges“ und 75 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges sind diese Traumata tief in das kollektive Bewusstsein eingegrabene Schemata und zum unsichtbaren Teil unserer Gegenwart geworden.
Die Ausstellung FLUXUS – Kriegskinder sucht nach Spuren dieser Schemata in der Kunst der Fluxus-Bewegung, welche für die Ästhetik der Kriegskindergeneration steht. Ziel der Ausstellung ist es, Künstler_innen der Nachkriegs¬ge¬ne¬ration unter dem Aspekt von Gewalt- und Fluchterfahrungen zu betrachten. Grundlegend für diese Betrachtung ist die Annahme, dass diese Bewegung spezifische Formen der Verarbeitung existenzieller oder die Existenz bedrohende Erfahrungen ausgebildet hat.
Die Kunst der Fluxus-Bewegung weist jedoch einige Merkmale auf, die sich mit derartigen Erfahrungen und deren Verarbeitung in Verbindung bringen lassen. Da sie nur ein Ausschnitt aus der Gesamtheit kultureller Äußerungen der Nachkriegszeit darstellt, kann die Fähigkeit zur Verarbeitung nicht exklusiv für die Fluxus-Bewegung reklamiert werden. Was jedoch versucht wird, ist die Möglichkeit aufzuzeigen, dass sich an der Fluxus-Kunst spezielle Merkmale zeigen lassen, die auf die Verarbeitung oben genannter existenzieller oder existenzbedrohender Erfahrungen zurückgeführt werden können und sich vor dem Hintergrund ihrer Tragweite sowohl auf der individuellen, als auch der kollektiven Ebene im Fluxus artikulierten. Der Einbruch von Kriegsereignissen etwa in die Kindheitserfahrungen in einer Diktatur oder das Aufwachsen in einer ruinösen Umgebung gehört ebenso dazu wie die ganz konkreten Erfahrungen von Detonationen, von Aufmärschen, Flucht, dem Versteck, der Angst davor entdeckt zu werden oder der Ohnmacht angesichts eines Kombattanten. Die Ohnmacht gegenüber politischen Entscheidungen, deren Motivationen im Abstrakten verborgen bleiben, ebenso wie die zwangsweise Einbindung in deren Umsetzung, koste es, materiell, persönlich wie psychisch, was es wolle. Wolf Vostell berichtet vom Sterben und den Bombergeschwadern, Mary Bauermeister von Tagen im Luftschutzkeller, Benjamin Patterson von der Angst, dass Familienanghörige zum Kriegsdienst gezogen werden – die Erzählungen müssen offen bleiben.
Ziel der Ausstellung ist, Künstler_innen der Kriegskindergeneration unter dem Aspekt ihres zeitgenössischen Umfeldes, das sich auf unterschiedlichste Weise mit den Folgen des Krieges auseinandersetzte, als Teil einer gesellschaftlichen Aufarbeitung zu betrachten. Kunst war Teil dieses Umfeldes und stellte in der sich wirtschaftlich schnell erholenden westdeutschen Öffentlichkeit ein entschleunigtes Biotop für eine heilsame Erinnerungskultur dar. Eine Anbindung Deutschlands an die westliche Kultursphäre wurde, nachdem der Realismusstreit zu Gunsten der Abstraktion entschieden war und die Wiederanbindung an die Kunst vor dem Krieg gelang, schnell vollzogen. Doch zeigt es sich, dass gerade die junge Generation, die den Krieg als Kleinkinder und junge Erwachsene erlebten und die Folgen von Gewalt und Vertreibung hautnah miterlebten, ihre Traumata auch künstlerisch aufarbeiten wollten bzw. mussten. Die Infragestellung der künstlerischen Gattungsgrenzen von Skulptur, Malerei, Musik und Theater ging damit einher. Während Fluxus-Künstler wie Joseph Beuys und Emmett Williams als mutmaßlich Kriegsbeteiligte oder mit den Folgen des Krieges Konfrontierte Brückenfunktionen innehielten, so waren es eher jüngere Künstler wie Wolf Vostell, Nam June Paik, Ben Patterson oder Tomas Schmit, die eine weiterführende Rolle für den Verarbeitungsprozess spielten.
Die Ästhetik der Fluxus-Bewegung setzt sich zusammen aus der inhaltlich bisweilen humorvollen, in Teilen zynischen Kritik an aktuellen Entwicklungen in der Gesellschaft, der links-liberalen politischen Grundhaltung, dem Interesse an aktuellen weltweiten Krisen und der Internationalität. Aus der Nachkriegsavantgarde hervorgehend suchten diese Künstler_innen vor allem auch die Nähe zu den „Kindern der anderen Seite“. So entstanden Foren für die internationale Annäherung zwischen Täter_innen und Opfern. Denn auch Künstler_innen derselben Generation aus den USA oder dem Ostblock bewegten sich in einer politischen Neuordnung nach dem zweiten Weltkrieg.
Auch formale Aspekte der Dematerialisierung und Prozessorientierung, der Konzeptualisierung und der Konkretion in dieser Kunstbewegung spielten eine Rolle und können mit Erfahrungen in der Kindheit in Zusammenhang gebracht werden. Die Künstler_innen der Fluxus-Bewegung setzten sich, neben der Beschäftigung mit neuen Materialien und künstlerischen Strategien, auch mit psychologischen Hintergründen, persönlichen Biographien und deren Bedingungen in politischen Kontexten sowie im größeren Spannungsfeld von „Befreiungserfahrung und Untergangsstimmung“ auseinander. Die ästhetischen Aspekte weisen darauf hin, dass der Kunstbegriff von den Ereignissen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und besonders durch die Kriegsereignisse geprägt wurde.
Die Ausstellung nimmt daher ausgewählte Arbeiten zum Ausgangspunkt, arbeitet ihre ästhetischen Besonderheiten auf, und kontextualisiert diese in der allgemeinen gesellschaftlichen Verfasstheit. Somit werden die Exponate der Ausstellung zu Fundstücken in einer Traumata - Archäologie der Kriegskinder.